Verloren im Räderwerk
Wir freuen uns über die Publikation der interdiszipliniären Studie „Verloren im Räderwerk“, die im Sommer 2015 die Gesundheit und die medizinische Versorgung von Asylsuchenden in Halle (Saale) untersucht hat. Die Studie finden Sie hier: „Verloren im Räderwerk“
Kurzfassung:
Diese Studie untersucht die Gesundheit und medizinische Versorgung von Asylsuchenden. Vor dem Hintergrund der aktuell zunehmenden Immigration nach Deutschland stellen wir die Frage, welche gesundheitlichen Probleme unter Asylsuchenden in Halle (Saale) häufig sind und wie deren medizinische Versorgung funktioniert.
Diesen Fragen wurde mit einem interdisziplinären Studiendesign nachgegangen. Zunächst wurde anhand einer zufälligen Stichprobe von 214 in Gemeinschaftsunterkünften wohnenden Asylsuchenden erfasst, welche Krankheiten häufig auftreten und wie der Impfstatus der Asylsuchenden beschaffen ist. Dafür fand ein standardisierter Fragebogen Anwendung, der den Befragten in ihrer jeweiligen Landessprache vorgelegt wurde.
Zur Kontextualisierung dieser Daten, und um die Interaktion zwischen Asylsuchenden und Akteuren der Gesundheitsversorgung näher zu beleuchten, schloss sich daran eine sozialwissenschaftliche Untersuchung an. In dieser wurde erschlossen, welche Schnittstellen es zwischen den verschiedenen in die medizinische Versorgung von Asylsuchenden eingebundenen Akteuren gibt und wo in der Interaktion Probleme auftreten.
Der epidemiologische Teil unserer Studie zeigte, dass psychische Erkrankungen und Schmerzen die mit Abstand häufigsten Beschwerden darstellten. Der Impfstatus war ungenügend – weniger als ein Drittel aller Befragten waren z. B. gegen Masern oder Tetanus geimpft.
Im sozialwissenschaftlichen Teil der Studie wurde deutlich, dass der Großteil der Schwierigkeiten in der Versorgung von Asylsuchenden in Halle nicht durch Mängel im Gesundheitssystem entsteht, sondern dass die Anbindung an das Gesundheitssystem oft nicht gelingt.
Probleme in der Anbindung entstehen durch:
Sprachbarrieren, Informationsdefizite bei Asylsuchenden und Ärzten, Alltagsrassismus, optimierungsbedürftige Abläufe in den Unterkünften der Asylsuchenden sowie die ungenügende Koordination von zivilgesellschaftlichen Angeboten mit den Bedürfnissen der Asylsuchenden. Darüber hinaus ist im Bereich der psychotherapeutischen Infrastruktur eine deutliche Unterversorgung zu konstatieren.
Auf Basis dieser Daten empfehlen wir folgende Maßnahmen zur Verbesserung der medizinischen Versorgung von Asylsuchenden.
- Erweiterung der Erstaufnahmeuntersuchung um eine gründliche Anamnese und eine leitliniengerechte Immunisierung sowie strukturierte Sicherstellung der Weiterbehandlung diagnostizierter Erkrankungen.
- Routinemäßiger Einsatz ausgebildeter Dolmetscher und Etablierung von telefonischen Dolmetscherdiensten, wo dies nicht möglich ist. Einführung von Maßnahmen zur Qualitätssicherung für nicht-professionelle Übersetzer (z. B. Sozialhelfer oder Ehrenamtliche).
- Qualifizierte Betreuung durch eine ausreichende Anzahl von Sozialarbeiterinnen in den Gemeinschaftsunterkünften (GUs).
- Verwendung eines zweisprachigen Gesundheitsheftes für Asylsuchende.
- Einrichtung von migrantenmedizinischenSchwerpunktpraxen und Ausbau der Infrastruktur zur psychotherapeutischen Versorgung für Migranten bei besserer Finanzierung für bereits bestehende Einrichtungen.
- Erhöhung der Sensibilität von Ärzten für die besondere Lebenssituation von Asylsuchenden
und die damit einhergehenden medizinischen Erfordernisse durch stärkere Einbindung
migrantenmedizinischer Themen in das Medizinstudium und in die ärztliche Fortbildung. - Sicherstellung einer besseren Information der Asylsuchenden über die Funktionsweisen
des deutschen Gesundheitssystems. - Strukturierte Aufarbeitung alltagsrassistischer Hürden im klinischen Alltag.
- Intensivierung des Kontaktes zwischen Asylsuchenden und Zivilgesellschaft und
Einführung von Maßnahmen zur Qualitätssicherung ehrenamtlicher Arbeit.